Dass dieser Baum kein gewöhnlicher Baum war, wussten Sven und Julia gleich als sie ihn sahen. Seit einigen Wochen stand er schon dort an seinem Platz an einer belebten Straße neben dem alten Bahnhofsgebäude. Hier wurden jedes Jahr zu Weihnachten, unter freiem Himmel, Tannenbäume zum Verkauf angeboten. Auch grüne Äste und anderen Weihnachtsschmuck konnte man dort erwerben.
Je näher das Fest rückte, umso häufiger blieben vorbeifahrende Autofahrer stehen und sahen sich nach einem passenden Baum oder nach weihnachtlicher Dekoration um.
Auch Sven und Julia hatten drei Tage vor dem Heiligen Abend kurz entschlossen an diesem Verkaufsstand mit ihrem Auto angehalten um sich die zum Verkauf angebotenen Weihnachtsbäume einmal aus der Nähe anzusehen.
Lächelnd kam der Verkäufer auf sie zu und fragte sie nach ihren Wünschen. Bevor Sven antwortete, steuerte er auf einen Baum zu, der ihm schon von weitem aufgefallen war. Während Julia und der Verkäufer sich beeilten mit ihm Schritt zu halten, ergriff Julia das Wort: „Wir suchen einen besonders schönen, großen Weihnachtsbaum!“
Sven hatte sich inzwischen einen Weg zu einem, etwas abseits stehenden, Baum gebahnt und musterte ihn von allen Seiten.
„Dieser hier...“, sagte der Mann und zeigte auf das von Sven ins Visier genommene Exemplar, „dieser hier...,“ wiederholte er, „...hat allerdings einen Fehler, so eine Art Makel, wenn Sie verstehen, was ich meine!?“
„Ja?“ fragte Sven etwas verwundert zurück und blickte den Baum noch etwas genauer an. „Er ist doch schön. Gut, an einigen Stellen sind die Äste nicht gleichmäßig gewachsen und er hat ein paar kahle Stellen, aber er ist groß und stattlich, findest du nicht?“ wandte er
sich an Julia.
„Auf jeden Fall ist er kein perfekter Baum!“ stellte Julia fest. „Das wollte ich ja damit sagen! Er steht von allen Bäumen, die ich zum Verkauf anbiete, am längsten hier. Bis jetzt wollte ihn einfach niemand haben. Die Leute interessieren sich nicht für ihn.
Tja, wie Sie sehen, sind die schönsten schon verkauft!“ sagte der Mann beinahe entschuldigend.
„Die Leute wollen nur einwandfreie Sachen, so ist das nun mal!“ „Wenn ihr mich fragt,“ warf Sven ins Gespräch ein „ich habe mich richtig in diesen Baum verliebt. Vielleicht, gerade weil er nicht perfekt ist. Ich mag ihn, denn er ist so natürlich gewachsen. Außerdem hat dieser Baum noch seine Wurzeln und kann über die Feiertage mit Wasser versorgt werden. Für mich lebt so ein Baum noch!“
Liebevoll strich Sven über die grünen Tannennadeln. Der Verkäufer schaute ihn aus den Augenwinkeln an und krauste seine Stirn.
„Wie gesagt,“ wiederholte er seine Aussage „wir haben leider nicht mehr so viele zur Auswahl!“
„Was meinst du, nehmen wir ihn?“ fragte Sven seine Freundin.
„Ja, natürlich! Solange du nur in einen Baum und nicht in eine andere Frau verliebt bist, bin ich damit einverstanden.“ lachte Julia und schmiegte sich fest an ihren Freund.
Die Augen des Verkäufers blitzten, während er mit fachmännischem Griff und Schutzhandschuhen den Baum packte und ihm ein grobmaschiges Netz über seine Zweige stülpte. Der Baum sah jetzt bemitleidenswert aus, wie er so mit eingedrückten Ästen dastand. Was in ihm wohl vorgehen mag, musste Julia plötzlich denken. Sie glaubte ein leises Wimmern des Tannenbaumes zu hören.
„Hast du das auch gehört?“
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